Faszinierende Faszien

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Das Wort Tensegrity kommt von Tension (Spannung) und Integrity (Ganzheit). Eine Seilbrücke ist ein gutes Beispiel einer Tensegrity-Struktur: Wenn man am einen Ende eine Kraft ausübt, verformt sich die ganze Struktur, gewährleistet jedoch dabei die Stabilität.

Die Faszien sind ein netzartiges bindegewebiges System, das alle Teile des Körpers verbindet und eine wichtige Rolle spielt. Lange Zeit wurden die Faszien von den Schulmedizinern verkannt und lediglich von Osteopathen und Rolfing-Therapeuten wahrgenommen.

Einer der Väter der Osteopathie, Andrew Tay­lor Still, sagte schon 1899: «Ich kenne keinen Teil des Körpers, der es den Faszien als For­schungsfeld gleichtun kann.» Doch selbst in unserer Physiotherapieausbildung waren die Faszien noch kein grosses Thema. Heute ändert sich das dramatisch. Die Faszien sind plötzlich im Zentrum des Interesses der For­schung und auch die Schulmediziner erken­ nen zunehmend die Bedeutung der Faszien an. Die Welt ist doch keine Scheibe.

Ein Grund, weshalb die Bedeutung der Fas­zien unterschätzt wurde, ist sicherlich die Zartheit ihrer Struktur und die Tatsache, dass sie durch die traditionellen Untersuchungs­ methoden nicht abgebildet werden konnten. Doch was sind denn nun die Faszien?

Das Bindegewebe organisiert sich je nach seiner Funktion

Unser Körper ist ein dynamisches Modell und kein starres Gerüst. Er besteht aus stabi­len «Abstandhaltern», den Knochen, die den Druckkräften standhalten, und elastischen Elementen, die die Zugkräfte regulieren. Eine solche Struktur wird auch Tensegrity­ Struktur genannt. Die Zugfunktion wird weitgehend von den Faszien erfüllt. Diese Faszien sind im Körper zum Teil federleichte zarte Strukturen, je nach Beanspruchung können sie jedoch eine Dicke von mehreren Zentimetern haben wie bei der Fascia thoracolumbalis. Das Binde­gewebe organisiert sich je nach seiner Funk­tion. Wenn der Zug immer aus der gleichen Richtung kommt, verdrehen sich einzelne Bündel spiralartig, um diese Kräfte besser ver­walten zu können. Dies passiert bei Sehnen und Bändern. Wirken die Kräfte immer wieder aus verschiedenen Richtungen, organisieren sich die Strukturen als Netz. Bewegt man es am einen Ende, hat dies Einfluss auf die ge­samte Struktur. Das schliesst auch die inne­ren Organe mit ein, deren mechanische Kom­ponente oft vergessen wird.

Die Leber bewegt sich oft mehr als ihr Besitzer

Ein Beispiel: Wenn wir einatmen, senkt sich das Zwerchfell. In der Folge muss sich auch die Leber, die mit dem Zwerchfell verwachsen ist, senken. Auf diese Weise legt die Leber pro Tag ca. 600 m zurück (das ist manchmal eine grössere Strecke, als der Besitzer der Leber unter die Füsse nimmt)! Diese Bewegung ist jedoch nur möglich, wenn die bindegewebi­gen Strukturen aneinander vorbeigleiten kön­nen, während sie andererseits den Halt der Leber im Körper gewährleisten. Ist nun auf­ grund von Verklebungen der Faszien die me­chanische Funktion beeinträchtigt, wird in der Folge auch die Funktion der Organe leiden, obwohl noch keine offensichtlich erkennbare Pathologie im schulmedizinischen messbaren Sinne vorliegt.

Handkehrum wird auch eine Entzündung der Leber das umliegende Gewebe verkleben lassen und kann über die faszialen Verbin­dungen zu einer vermehrten Spannung im Schultergelenk führen, das in der Folge an Beweglichkeit verlieren wird.

Doch die Funktion der Faszien geht weit über das Führen der Bewegungen und Dämpfen von Stössen hinaus. Die Faszien sind auf­ grund ihrer hohen Wasseranbindungsfähig­keit ein wichtiger Wasserspeicher im Körper. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag im Stoffwechsel und in der Abwehr.

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Wenn sich die Flüssigkeitsanteile einer Faszie verändern, dann verändert sich auch deren Struktur. Was normalerweise rautenförmig angeordnet ist, verfilzt und sieht wie ein un­geordnetes Wollknäuel aus. Das führt zu Ver­klebung und zum Verlust der Zugkraft und Elastizität. Der Körper versucht in der Folge, die Faszien zu entlasten, was unweigerlich muskuläre Verspannungen hervorruft. Gleichzeitig werden Nerven und Gefässe, die sich durch diese Faszien hindurchziehen, beengt und in ihrer Funktion beeinträchtigt, was zu Schmerzen und Funktionsstörungen führen kann.

Wenn also ein Patient mit solchen Verspan­nungen oder Schmerzen zu uns kam, haben wir meist die Muskulatur behandelt und uns gewundert, warum die Verspannungen immer wieder auftreten. Behandelt man jedoch die Faszien, so ist das Ergebnis nicht nur einiges erfolgversprechender, sondern auch die Be­handlung ist für den Patienten meist viel an­genehmer, da fasziale Techniken oft sehr sanft sind.

Faszien enthalten wichtige Sensoren für die Körperhaltung und Balance. So werden die Faszien von einigen als Sinnesorgan des Kör­pers bezeichnet. Mehr noch, Faszien sind sensible Strukturen, die auch auf Emotionen reagieren.

Auch hier bestätigt die neuere Forschung, was die Osteopathen schon vor 100 Jahren ver­muteten. Dazu nochmals Andrew Taylor Still: «Die Seele des Menschen mit all ihren Strömen puren Lebenssaftes scheint in den Faszien des Körpers zu fliessen.» Und wirklich zeigen Ver­suche, dass Stresshormone ein Zusammen­ziehen der Faszien auslösen. Bei lang anhal­tendem Stress stehen die Faszien dauernd unter Spannung. Dabei geht ihre Elastizität verloren, was ein wesentlicher Auslöser für Rücken­ oder Nackenschmerzen sein kann.

Wenn die Faszien so wichtige Strukturen sind, stellt sich die Frage, was man tun kann, um ihre Funktion zu fördern. Lesen Sie dazu unseren Artikel Tipps zur Fasziengesundheit